Denunziation-Repression-Verfolgung: wie arbeitet ein Unrechtsregime
Kultusministerin Theresa Schopper: "Das ist historisch-politische Demokratiebildung, wie man sie nicht besser machen kann." Generallandesarchiv und Schülerakademie Karlsruhe stellen neues Pädagogikprojekt zur Willkür des NS-Regimes vor.
Das neue Projekt der Schülerakademie und des Generallandesarchivs Karlsruhe "Denunziation – Repression – Verfolgung. Politischer Dissens und Alltagskriminalität vor den NS-Sondergerichten 1933-1945" soll Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, aus der Arbeit mit historischen Quellen den Unrechtscharakter der NS-Diktatur zu erkennen. Sie sollen dadurch Fake-News und Hassbotschaften in der aktuellen politischen Debatte identifizieren und so für die Werte Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eintreten. Die Bundesstiftung "Erinnerung – Verantwortung – Zukunft" fördert das auf zwei Jahre angelegte Projekt mit 570.000 Euro.
Die politische Kultur in Deutschland ist im Umbruch. Bei den letzten Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen haben junge Wählerinnen und Wähler in großer Zahl ihre Stimme rechtsextremen und populistischen Parteien gegeben. Rechtspopulismus und Fake-News haben Konjunktur. Hier setzt das neue pädagogische Projekt von Generallandesarchiv Karlsruhe und Schülerakademie Karlsruhe e.V. an. "Die Schülerinnen und Schüler untersuchen Schicksale von Menschen wie Du und ich: Der Verkäuferin um die Ecke, dem Lehrer, den Nachbarn", sagt Kultusministerin Theresa Schopper, die sich vor Ort in Karlsruhe über das Projekt informiert hat und dabei richtig begeistert vom Engagement aller Beteiligten war. "Aus all diesen Schicksalen wird deutlich: Das erste Land, das die Nationalsozialisten besetzt haben, war Deutschland. Damit dieses schreckliche Unrecht, das diesen Menschen widerfahren ist, nicht vergessen wird, lernen die Schülerinnen und Schüler, wie wichtig Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Gerichte sind – sie sind Grundlage unserer Demokratie, unserer Werte und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung." Schopper unterstreicht: "Das Projekt der Schülerakademie und des Generallandesarchivs Karlsruhe ist somit historisch-politische Demokratiebildung, wie man sie nicht besser machen kann."
Pädagogische Tools und wissenschaftliche Aufarbeitung
Auf der Grundlage der Akten des nationalsozialistischen "Sondergerichts Mannheim" sollen sich Schüler und Schülerinnen mit den Mechanismen von Denunziation, Repression und Verfolgung durch den NS-Staat auseinandersetzen. Mehr als 12.000 Akten bieten Einblicke in den Alltag dieses Unrechtsregimes. Die Gerichtsverfahren betrafen Menschen aus dem unmittelbaren regionalen Lebensumfeld der Jugendlichen. So wird deutlich: das NS-Regime hat auch seine tiefen Spuren in der eigenen Heimat hinterlassen.
Die Schülerinnen und Schüler erhalten für ihre Arbeit eine Palette von pädagogischen und historischen Handreichungen. Ein Historiker und eine Historikerin des Projektteams klären vorab grundsätzliche Fragen: Wie arbeitete ein Sondergericht? Wie sieht es mit der "Wahrheit" der vorgebrachten Beschuldigungen aus? Worauf ist bei der Interpretation besonders zu achten? Dabei wird ein repräsentatives Sample von Einzelfällen. Lesehilfen und Kommentierungen erleichtern das Verständnis. Best-practice-Beispiele zeigen Möglichkeiten der Bearbeitung auf. Das gesamte Angebot wird über die Internetplattform leo-bw.de des Landesarchivs Baden-Württemberg frei zugänglich sein. "Mit dem neuen Kooperationsprojekt schaffen wir für die Schüler und Schülerinnen ein innovatives und niederschwelliges Angebot. Der außerschulische Lernort "Archiv" wird neu erfahrbar", betont Wolfgang Zimmermann, der Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe.
Von der Geschichte in die Gegenwart
Durch die Arbeit mit den historischen Quellen bekommen die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die Werte eines auf Rechtsstaatlichkeit aufbauenden Gemeinwesens besser zu verstehen. An konkreten Beispielen aus dem direkten Wohnumfeld der Jugendlichen, an Sachverhalten, wie sie auch heute im täglichen Leben vorkommen, wird das Verständnis von Recht und Unrecht im totalitären Regime der Nazi-Zeit mit dem heutigen verglichen. Die Errungenschaften der Demokratie werden dadurch konkret erfahrbar. Es entstehen Fragen, die den Blick von der Vergangenheit auf die Gegenwart lenken, auch auf die Vorgänge in sozialen Netzwerken und Medien, auch auf unser Rechts- und Demokratieverständnis. "Im Schulunterricht bleibt das Thema Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für die Schüler und Schülerinnen notgedrungen oftmals recht abstrakt", unterstreicht Peter Gilbert, Vorstand der Schülerakademie Karlsruhe. "Mit diesem Material haben wir nun eine gute Möglichkeit, emotionale Betroffenheit zu erzeugen – ‚das ist ja völlig ungerecht, das darf nicht so sein’. Nachhaltig wirkende Betroffenheit ist eine wichtige Voraussetzung für tiefgehendes Verständnis, um Rechtspopulismus und der Diskriminierung von Minderheiten präventiv zu begegnen."
Regional und weit darüber hinaus
Ein kritisches Wort über ein Regierungsmitglied, ein Lebenswandel, der nicht den Erwartungen gesellschaftlicher Mehrheiten oder der NS-Machthaber entspricht, ein politischer Witz, unbedacht in Gegenwart Fremder erzählt – das sind beispielsweise Fälle, die vor den Sondergerichten verhandelt wurden. Die ausgewählten Quellen beziehen sich auf konkrete Vorfälle in Nordbaden. Zugleich wird das neue Angebot es auch möglich machen, dass mit den Materialien eine Grundlage geschaffen wird, um die Fragestellungen auf andere Regionen zu übertragen. Erfahrene Didaktikerinnen und Didaktiker erarbeiten Fortbildungsangebote und neue Formen der Vermittlung. Podcasts und Social Media-Account unterstreichen die Praxisnähe des Projekts. Ein schulübergreifender Seminarkurs von drei Karlsruher Gymnasien macht bereits erste Erfahrungen mit dem neuen Angebot. "Wir möchten zusammen mit jungen Menschen in Workshops, im Unterricht oder in Projekten die Mechanismen einer Diktatur beleuchten und dadurch auch aufzeigen, welchen bedeutsamen Wert unsere Grundrechte und unsere demokratische Grundordnung haben", hebt Projektleiter Tobias Markowitsch hervor.
Förderer und Kooperationspartner des Projekts
Die Bundesstiftung Erinnerung – Verantwortung – Zukunft (EVZ) hat den Auftrag, die Erinnerung an das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung lebendig zu halten, die daraus erwachsende Verantwortung im Hier und Heute anzunehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Zentrales Motiv der Stiftungsgründung im Jahr 2000 war die Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen des NS-Regimes – ein Meilenstein der deutschen Aufarbeitung von NS-Unrecht. Heute fördert die Stiftung über ihre Handlungsfelder Bilden und Handeln konkrete Projekte und Aktivitäten, die den Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, der Völkerverständigung und der Stärkung von Menschenrechten dienen.
Die EVZ fördert das neue Projekt, das auf zwei Jahre angelegt ist, mit einem
Gesamtvolumen von rund 570.000 EUR im Rahmen der "Bildungsagenda NS-Unrecht", das einen besonderen Schwerpunkt auf die Schaffung von zukunftsgerichteten Erinnerungs- und Bildungsformaten legt. "Das Projekt der Schülerakademie Karlsruhe e.V. verwirklicht zwei Hauptziele der von der Stiftung EVZ durchgeführten Bildungsagenda NS-Unrecht: Es schließt eine wichtige Leerstelle in der Vermittlung von NS-Unrecht. Denn zur Tätigkeit der NS-Sondergerichte, einem rassistischen und auf Ausgrenzung orientierten Justizorgan, gibt es bisher kaum Bildungsangebote. Zudem werden Schülerinnen und Schüler bei der wissenschaftlichen und pädagogischen Aufbereitung einer repräsentativen Auswahl von Akten einbezogen. Das ist im besten Sinne auch zeitgemäße Demokratiebildung", stellt Andrea Despot, die Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ, heraus. Projektbeschreibung auf der Homepage der Stiftung EVZ
Um die aus den nationalsozialistischen Verbrechen resultierende Verantwortung in zukunftsgerichtete Erinnerungs- und Bildungsformate zu übersetzen, startete die Stiftung EVZ 2021 auf Initiative und mit Zuwendungsmitteln des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) ein wegweisendes Vorhaben: die Bildungsagenda NS-Unrecht. Durch geschichtsbewusste, Empathie fördernde und aktivierende Vermittlung der Lehren aus der NS-Vergangenheit stärkt die Bildungsagenda NS-Unrecht demokratische Haltungen und wirkt Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und LGBTIQ-Feindlichkeit entgegen. In ihrer Arbeit legt die Stiftung EVZ ein besonderes Augenmerk auf jüngere Generationen.
Homepage der Bundesstiftung Erinnerung - Verantwortung - Zukunft
Das Generallandesarchiv Karlsruhe ist eine Abteilung des Landesarchivs Baden-Württemberg. In vielfältigen Kooperationen arbeitet es mit Schulen in der Region zusammen. In den vergangenen Jahren waren die verschiedensten Aktenbestände Grundlage vieler erfolgreicher Arbeiten von Schülerinnen und Schülern bei dem von der Körber-Stiftung ausgeschriebenen "Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten". In der historisch-politischen Bildungsarbeit legt das Generallandesarchiv einen besonderen Schwerpunkt auf die Aufarbeitung des NS-Unrechts. Mit Wanderausstellungen und Internetangeboten erreicht es eine breite Öffentlichkeit. Seit 2020 ist im Generallandesarchiv die Dokumentationsstelle Rechtsextremismus angesiedelt. Sie sammelt und sichert Informationen über rechtsextreme und rechtspopulistische Strukturen und Aktivitäten und schafft damit eine gesicherte Faktengrundlage für wissenschaftliche Analyse und zivilgesellschaftliches Engagement.
Homepage des Generallandesarchivs Karlsruhe und Homepage der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus
Die Schülerakademie Karlsruhe e.V. bietet seit ihrer Gründung 2007 motivierten und begabten jungen Menschen von der Grundschule bis zum Schulabschluss Angebote, Neues zu entdecken, zu verstehen und zu dabei zu lernen. In Eigenregie und in Zusammenarbeit mit den Partnern werden Kurse und Projekte initiiert, an denen pro Jahr über eintausend Kinder und Jugendliche teilnehmen. In einem weit gespannten Netzwerk besteht Zusammenarbeit mit der Hector-Kinderakademie und vielen weiteren Partnern wie z.B. dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe oder dem CyberForum, wie auch dem Generallandesarchiv Karlsruhe, dem Stadtjugendausschuss (StjA) und dem Badischen Landesmuseum.
Homepage der Schülerakademie Karlsruhe