III. Musikalische Fragmente als Einbandmakulatur
Im Lauf der Zeit kamen Choralhandschriften aus verschiedenen Gründen außer Gebrauch. Schlichte Gebrauchsbücher wurden solange geschätzt, wie sie für die Liturgie verwendet wurden.
Bei den alten liturgischen Büchern, die für den Gottesdienst, für Gebet und Gesang, nutzlos geworden waren, bestimmte oft allein das Material über ihre weitere Verwendung: Zahlreiche Bände wurden in ihre einzelnen Blätter zerlegt, makuliert und beschnitten, um sie als günstiges Einbandmaterial wieder zu gebrauchen. Sie dienten als Falzverstärkungen, Spiegel und Einbände. Beschläge wurden eingeschmolzen, Miniaturen herausgeschnitten, und ganze Handschriften sollen bei Klosteraufhebungen als Trittpflaster auf aufgeweichten Wegen gedient haben.
Zerstörung und Wiederverwendung
Aufkommen der Choraldrucke im späten 15. Jahrhundert.
Für Kassationen dieser Art war das Aufkommen der Choraldrucke im späten 15. Jahrhundert von besonderer Bedeutung. Durch sie wurden für größere Gebiete, etwa Diözesen, einheitliche Choralfassungen verbindlich. Das Graduale Constantiense von 1473 war einer der frühesten Choraldrucke. Wurde ein Druck eingeführt, so waren schlagartig sämtliche Handschriften in dem betreffenden Gebiet nutzlos geworden.
Reformation im 16. Jahrhundert
Als im Herzogtum Württemberg nach 1534 durch Herzog Ulrich die Reformation eingeführt, die Klöster aufgehoben und der altgläubige Ritus abgeschafft wurde, wurden auch deren Bibliotheken aufgelöst und zerstört.
Der wertvolle Beschreibstoff, das beschriftete Pergament, freilich konnte wiederverwendet werden, meist als flexibler Einband oder zur Einbandverstärkung für neue Bücher oder Hefte in den Klosterschulen und –verwaltungen.
So dienten beispielsweise als Rechnungseinbände der nun württembergischen Klosterverwaltung in Bebenhausen Mitte des 17. Jahrhunderts unter anderem ein Antiphonar aus dem 15. Jahrhundert, sowie eine Handschrift der Weltchronik des Vinzenz von Beauvais aus dem 13. Jahrhundert. Neben weiteren Fragmenten, die ebenfalls im 17. Jahrhundert als Rechnungseinbände Wiederverwendung fanden, ist ihre Herkunft aus der Bebenhäuser Bibliothek gesichert. Ein Inventar aus dem Jahr 1632 berichtet nämlich davon, dass man in der Bibliothek in einem Kasten zimliche, doch lauter alte, papistische Bücher gefunden habe, die man für gering achte und nicht inventarisieren wolle. Genau diese Bücher wurden offensichtlich bald darauf makuliert und finden sich ab dem Folgejahr 1633 als Umschläge für die angesprochenen Rechnungsbände wiederverwendet.
Die Herkunft der Fragmente – Eine Spurensuche in alle Richtungen
Klare Zuordnungen dieser Art stellen jedoch eher einen Glücksfall der Überlieferung dar. Zahlreiche Fragmente geben vielmehr trauriges Zeugnis über eine breite Streuung in unterschiedlichste Richtungen. So etwa die musikalischen Fragmente, deren burgundische Choraltradition auf eine westrheinische Herkunft weist, und die sich als Einbandmakulatur in württembergischen Verwaltungsrechnungen etwa des Oberamts Sachsenheim von 1650 oder des Klosters Adelberg von 1585/86 wiederfinden.
Dabei deuten Spuren besonders nach Montbéliard (Mömpelgard), das durch einen geschickten Heiratsvertrag 1397 an Württemberg gekommen war. Auch hier wurden mit der Einführung der Reformation im Jahr 1524 Klöster aufgelöst und deren Bibliotheken zerstört.
Das Musikfragment als Archivgut
Pergament- und Papierfragmente unterschiedlichster Herkunft dienten vor allem im 16. und 17. Jahrhundert zahlreichen Amtsbüchern, insbesondere Zins- und Lagerbüchern sowie Rechnungs- und Protokollbänden, als Einband. Neben Fragmenten liturgischer Handschriften finden sich natürlich auch weitere Texte literarischer Art oder auch aus Philosophie und Naturwissenschaft.
Zum konservatorischen Umgang
Aus konservatorischen Gründen wurden in Archiven und Bibliotheken bereits seit Jahrzehnten Einbandfragmente abgelöst. Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart werden diese abgelösten Einbände im Bestand J 522 verwahrt und beschrieben. Darunter finden sich auch etwa 75 Fragmente aus Musikhandschriften.
Bei einem Großteil der in diesem Bestand verwahrten Fragmente ist die Herkunft nicht mehr festzustellen. Wichtige Hinweise gingen mit der Ablösung der Stücke von der Trägerhandschrift verloren. Nur bei wenigen blieb der Bezug durch alte Aufschriften und Signaturen erhalten.
Für die meisten der hier vorgestellten Fragmente gelang ihre Zuordnung zur einstigen Trägerhandschrift durch detaillierte Untersuchungen. Vermerke auf den Fragmenten, wie Altsignaturen, Titel, Angaben zum Inhalt, Orte oder Jahreszahlen lieferten Ausgangspunkte für die Recherche nach ihrer Provenienz, deren Identifikation dann oft durch Größe und Passform, Art der Bindung, übereinstimmende Schäden und Gebrauchsspuren möglich war.
Zur wissenschaftlichen Bedeutung
Die als Einbandfragmente erhaltenen Liturgica verweisen zunächst auf ihre zentrale Bedeutung gerade für die geistliche Musik und Frömmigkeit vor der Reformation. Sie ermöglichen neue Erkenntnisse zur Liturgie- und Bibliotheksgeschichte der württembergischen Klöster und Stifte, die im Zuge der Reformation aufgelöst und deren Bibliotheken weitgehend zerstört wurden. Gleichzeitig lassen sich die regionalen Befunde in größere räumliche Zusammenhänge einordnen, die für die Erleuchtung der europäischen Musik- und Geistesgeschichte von markanter Bedeutung sind. Um so dringlicher erscheint es, diese Stücke fachgerecht zu verwahren, zu erhalten und der Wissenschaft zugänglich zu machen.