Wie ein armer Nagelschmid zum Mörder wird
Die Not ist groß bei den Reichardts. Reichtum ist für den Familienvater ein Fremdwort. Der heimische Hof wirft kaum Gewinn ab und das wenige Geld, das er als Nagelschmid verdient, reicht hinten und vorne nicht aus, um die vierköpfige Familie zu ernähren. Der Schuldenberg wächst. Der Entringer Reichardt leiht sich hier mal ein paar Mark, dort mal ein paar Mark. Und bei einem gewissen Gallus in Tübingen steht er mit stolzen 800 Mark in der Kreide. Im November 1881 fordert Gallus sein Geld zurück. Zum Martinitag - den 11. November - will der Tübinger die geliehenenen 800 Mark wieder haben. David Reichardt ist verzweifelt. Er fragt Nachbarn. Geht zu Freunden und bittet sie um Hilfe. Doch niemand vermag dem Familienvater zu helfen - zu groß ist die Angst, man könne das Geliehene nie wieder zu Gesicht bekommen.
In seiner Not macht sich David Reichardt auf nach Wurmlingen. Dort wohnt Johannes Weiß mit seiner Gattin Salome. "Weiß hat immer Bares im Hause", heißt es sogar im Nachbarort Entringen. Reichardt zieht bei dem Wurmlinger Ehepaar alle Register. Die Frist für ihn sei abgelaufen, er sei schon sechs Tage überfällig mit der Rückzahlung an den Tübinger Gallus. Dennoch schickt ihn der 78-jährige Weiß nach Hause. Auch seine Frau Salome bestärkt ihn in seiner Entscheidung. Sie fürchten, nie wieder ihr Geld zurückbezahlt zu bekommen. Traurig verlässt Reichardt das Weiß'sche Haus. Aufmunterung und Abwechslung verspricht er sich von einem kleinen Abendessen in einer Wirtschaft. Doch Reichardts Gedanken drehen sich nur um eines: Um den Kasten mit dem Berg von Schuldscheinen und Wertpapieren von Johannes Weiß. Ein kleiner Einbruch - und seine Geldsorgen wären Vergangenheit!
David Reichardt macht sich an diesem Abend nicht auf den Nachhauseweg. Er schlendert über die Feldwege rund um Wurmlingen. Als die Nacht über den kleinen Ort hereinbricht, macht sich David Reichardt auf zur Wurmlinger Kirche. Nicht weit davon entfernt steht das Weiß'sche Haus, versteckt hinter einer Scheune. Dort angekommen, drückt Reichardt zaghaft gegen die Tür. Sie ist verschlossen.
Doch Reichardt sucht ein Schlupfloch, schleicht um das Haus herum - und entdeckt schließlich ein angelehntes Fenster. Reichardt klettert durchs Fenster und steht in der Werkstatt von Johann Weiß. Im Treppenhaus angekommen, zündet er sich eine kleine Kerze an. Den Weg ins Wohnzimmer mit der Kasten voller Schuldscheine und Wertpapiere muss er nicht suchen. Dieser ist noch gut vom Besuch vor ein paar Stunden in Erinnerung.
Reichardt schleicht die Treppe hoch. Behutsam setzt er einen Fuß vor den anderen, um das schlafende Ehepaar Weiß nicht aufzuwecken. Wenige Minuten später steht Reichardt im Wohnzimmer. Sein Herz klopft bis zum Halse, denn neben dem Kasten liegt Salome Weiß in ihrem Bett und schläft. Ihr Mann schlummert im Nebenzimmer. Reichardt fühlt sich sicher. Er stellt die Kerze auf den Tisch und macht sich am Kasten zu schaffen. In diesem Moment erwacht Johannes Weiß. Ein Blick ins Nebenzimmer versetzt ihm einen großen Schreck. "Feurio!", schreit der alte Mann und springt auf, um seiner Frau zu Hilfe zu eilen.
David Reichardt fährt der Schrei des alten Mannes durch alle Knochen. Er greift zu seinem Nageleisen und schlägt es dem ebenso erschreckten alten Mann auf den Kopf. Weiß' Frau - vom Lärm in der Stube geweckt - wird ebenso Opfer des Einbrechers. Noch während sie im Bett liegt, erwischt sie das Nageleisen das erste Mal. David Reichardt schlägt weiter zu, bis sich auch Salome Weiß in ihrem Bett nicht mehr regt.
Den Griff in den Kasten vergisst Reichardt dennoch nicht. Er öffnet den Schrank und holt zwei Wertpapiere der ungarischen Ostbahn heraus. Gesamtwert: 1450 Mark. Zudem findet er 100 Mark Bares in einem Geldsäckel, das er in die Hosentasche steckt. Als er wenig später zu seiner Frau nach Hause kommt, lässt er sie wissen: "Weck mich morgen in der Früh um Drei. Ich will nach Stuttgart zum Arzt."
Was die Gattin nicht ahnt: Kein Wehwehchen plagt ihren Mann, sondern die zwei Wertpapiere. Diese will Reichardt schnell zu Bargeld machen. Als Johann Fischer aus Plieningen stellt er sich am nächsten Tag in Stuttgart den Banken vor - und hält alsbald 1450 Mark Bares in seinen Händen.
Als er nach Hause zu seiner Frau nach Entringen kommt, ist der Mord an Johann Weiß einziges Thema im Flecken. "Hoffentlich wird der Täter gefunden", sagt er bestürzt zu seiner Maria, als die ihm von der unfassbaren Tat erzählt. Die Staatsanwaltschaft Tübingen ermittelt - und hat als erstes die Schuldner von Weiß im Blick. Der Verdacht fällt auf den 36-jährigen Pius Müller. Ordentliche Schulden hatte dieser bei Johannes Weiß. Doch die Ermittler müssen bald zugeben: "Das ist der Falsche."
In Entringen wundert man sich derweil über den plötzlichen Wohlstand Reichardts. Im Wirtshaus lässt er sich oft nachschenken, Prostituierte tanzen, weil er ihnen Geld zuschiebt und auch sein Haus wirkt immer weniger verfallen. Bis bei den Ermittlern in Tübingen ein anonymer Hinweis eingeht und die Aufmerksamkeit der Polizisten dadurch auf den Entringer gelenkt wird. Am 10. Januar 1882 wird David Reichardt verhaftet. Das Schwurgericht Tübingen lässt sein Urteil am 15. Mai 1882 im Gefängnis in Rottenburg vollstrecken: David Reichardt wird mit der Guillotine der Kopf abgeschlagen.
Der Artikel wurde am 17. September 2005 in der Ludwigsburger Kreiszeitung veröffentlicht. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der LKZ.
Akteneinsicht
Die Akte kann im Staatsarchiv Ludwigsburg unter der Signatur E 332 Bü 38 bestellt und eingesehen werden. Der Lesesaal ist unter der Telefonnummer 07141/18-6337 erreichbar.